Herausgeber

Matthias C. Kettemann

PD Mag. Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard), ist Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI), Leiter des dortigen Forschungsprogramms zur Regelbildung im Internet sowie assoziierter Forscher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG), Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der normativen Gestaltung des Zusammenspiels verschiedener Akteure und unterschiedlichen normativen Ordnungen in der Digitalität. Er studierte internationales Recht in Graz, Genf und an der Harvard Law School und habilitierte sich am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er war als Sachverständiger im Deutschen Bundestag sowie für mehrere DAX-Unternehmen, Stiftungen und internationale Organisationen in den Bereichen Internetregulierung, Cybersicherheit und Menschenrechte tätig.

Stephan Dreyer

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) und Leiter eines Forschungsprogramms zur Transformation öffentlicher Kommunikation. In seiner Forschung konzentriert er sich auf regulatorische Aspekte medienvermittelter Kommunikation in der datafizierten Gesellschaft. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg wurde er als Experte für rechtliche Fragestellungen im Schnittbereich von Jugendschutz und Datenschutz Sprecher des Beschwerdeausschusses und der Gutachterkommission der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) und Jugendschutzsachverständiger bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Unterhaltungssoftware (USK online).

Einleitung

Dr. Matthias C. Kettemann und Dr. Stephan Dreyer

Die Mondlandung war nicht echt. Die Erde ist flach. Impfstoffe sind schlecht für uns. Dies sind Mythen, die man im Internet findet. Es handelt sich dabei aber nicht um das, was wir in diesem Buch unter Internetmythen verstehen – und entlarven; wir widerlegen vielmehr Mythen im Zusammenhang mit dem Internet. Dabei bedienen wir uns der weit gefassten Definition von Mythos, die von dem einflussreichen französischen Kulturtheoretiker Roland Barthes geprägt wurde: Ein Mythos ist eine kulturelle Konstruktion, die aus universellen Wahrheiten eingebettet in den gesunden Menschenverstand zu bestehen scheint.

Es ist beispielsweise ein Mythos, dass das, was Menschen im Internet tun, nicht reguliert werden kann. Es ist ein Mythos, dass Protokolle nichts mit Politik zu tun haben. Diese mächtigen Gebilde der Realität mystifizieren die tatsächlichen Herausforderungen hinsichtlich der Regulierung des Internets. Auch wenn sie ein Fünkchen Wahrheit enthalten (es ist oft schwieriger, Online-Verhalten als Offline-Aktivitäten zu regulieren, und Protokolle haben weniger mit ‚Politik‘ zu tun als Gesetze, bei denen es sich um destillierte Politik handelt), verschleiern sie, worum es eigentlich geht. Genau deshalb gibt es im Bereich der Internet-Politik Kräfte, die ein berechtigtes Interesse daran haben, Mythen zu verbreiten. Die Monster schlechter Politik lauern im Schatten von Mythen darüber, wie das Internet betrieben wird. Sie leben von Desinformation, Falschinformation und dem unkritischen Glauben an Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um der Welt/den Welten, die wir uns schaffen, Sinn zu geben, um dem Universum Sinn zu geben, in dem wir leben.

Aus psychologischer Sicht haben Mythen ihren Reiz, da sie scheinbar intuitiv sind. Mythen wirken wie hilfreiche Vereinfachungen in immer komplexeren Zeiten. Sie legen nahe, dass wir damit aufhören können, nachzudenken, den Status quo zu hinterfragen und uns darüber Gedanken zu machen, wie wir das verbessern können, was wir wahrnehmen. Wenn Algorithmen immer neutral sind, müssen wir keine normativen Instrumente entwickeln, um die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, die sie entwickeln und verwenden. Nicht nachzudenken, nicht zu hinterfragen, sich nicht mit Einzelheiten zu beschäftigen, ist immer der einfachere Weg.

Mythen sind verführerisch. Verbrechen im Internet bleibt ungestraft – das klingt wie etwas, das wir schon einmal gelesen haben, etwas, das womöglich sogar Politikerinnen und Politiker gesagt haben. Aber stimmt das überhaupt? Oder steckt hinter dem Mythos die unbequeme Wahrheit, dass es sehr wohl bestraft wird und dass zu dessen Bekämpfung weniger politische Stellungnahmen als vielmehr harte kriminologische Arbeit erforderlich ist.

Wenn Suchmaschinen objektive Ergebnisse liefern, besteht kein dringender Bedarf, einen gesellschaftlichen Diskurs über diejenigen zu eröffnen, die Informationen strukturieren. Wenn es gar keine Privatsphäre mehr gibt, warum sollten wir uns dann über die Verletzung der Privatsphäre aufregen? Wenn Algorithmen neutral sind, gehören Polarisierungen der Vergangenheit an.

Aber nicht alles ist in Ordnung im Staate Internet (bei dem es sich selbstverständlich nicht um einen eigenen Staat handelt; dass Gesetze online nicht gelten, ist auch so ein starker Mythos).

Mythen sind wie Heuristik – sie helfen uns, die Welt zu vereinfachen. Wie die Heuristik können Mythen nützlich und teilweise wahr sein oder sogar auf klar vertretenen Meinungen basieren oder diese einschließen. In Einzelfällen können Mythen sinnvoll sein, um sich weniger Gedanken machen zu müssen. Es ist aufwändig, sich Gedanken zu machen, vor allem kritische Gedanken. Aber in gesellschaftlicher Hinsicht sind Mythen sehr gefährlich.

Viele, die sich Mythen bedienen, tun dies bewusst. Schon Barthes schrieb, dass der Mythos die Aufgabe hat, einer historischen Absicht eine natürliche Rechtfertigung zu geben und den Zufall als ewig erscheinen zu lassen. Aber jede normative Lösung für ein konkretes Problem der Internet-Politik und des globalen Internet-Gemeinwesens ist in hohem Maße zufällig. Wenn wir den Ursprung des Internets, die Rolle von Algorithmen, das Wesen von Codes, die Normativität von Regeln, den Pluralismus in Kulturen und Lebenskonzepte mystifizieren, verlieren wir den Überblick über historische Zufälle, kulturelle Abhängigkeiten, die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns dazu entschlossen, einen Aufruf zu Mythen im Zusammenhang mit dem Internet zu starten. Von den unterbreiteten Beiträgen haben wir im Rahmen einer Begutachtung durch Expertinnen und Experten die 50 repräsentativsten ausgewählt. Wir sind uns sehr wohl dessen bewusst, dass die in diesem Buch enthaltenen Mythen nur einen Bruchteil der Mythen darstellen, die man in Debatten über Internet Governance findet: Es handelt sich aber um einen sehr repräsentativen Bruchteil, der viele der Hauptthemen und alle übergeordneten Themenfelder des 2019 in Berlin stattfindenden Internet Governance Forums abdeckt – der Veranstaltung, anlässlich derer dieses Buch veröffentlicht wird (auf dem IGF wird nicht nur geredet, auch wenn sie ein weiterer Mythos, den wir entzaubern, dies glauben machen will).

Als wir uns um die Zusammenarbeit mit dem Veranstalter des Internet Governance Forums 2019 in Berlin, dessen finanzielle Unterstützung für dieses Projekt wir an dieser Stelle dankend erwähnen möchten, bemühten, hatten wir eben diese Entzauberung von Mythen im Rahmen der Debatte um Internet Governance im Blick. Die Verantwortung für die Auswahl und das Widerlegen der Mythen in diesem Buch übernehmen jedoch wir.

Dieser Verantwortung kommen wir sehr gerne nach, weil wir davon überzeugt sind, dass das ausgezeichnete Team von Autorinnen und Autoren – von Mitbegründern des Internets bis zu jungen Wissenschaftlern, von Praktikern und Professoren bis zu Theoretikern und Technologen – die Mythen um das Internet in einer vortrefflichen Art und Weise entzaubert. Wir wollten ein Vademekum für alle schaffen, die sich mit der Zukunft des Internets beschäftigen, um die Debatte zu versachlichen und weit verbreitete Annahmen zu widerlegen.

Unserer Einleitung folgen fünf Kapitel, um dem Buch eine Struktur zu geben: (1) Rechte und Regeln, (2) Sicherheit, (3) Inklusion und Integration, (4) Infrastruktur und Innovation und (5) Daten und Störungen.

Das Buch erscheint in englischer Sprache und enthält Zusammenfassungen in arabischer, chinesischer, deutscher, französischer, russischer und spanischer Sprache. Der Text wird darüber hinaus online unter internetmyths.eu zusammen mit einer vollständigen deutschen Fassung unter internetmythen.de verfügbar sein.

Der Mensch von heute und der Mensch der Zukunft, wie der deutsche Philosoph Günther Anders es beschrieb, das heißt die Menschen heute und die Menschen morgen, zeichnen sich dadurch aus, dass die Kluft zwischen den zunehmenden technologischen Möglichkeiten und der mangelnden Vorstellungskraft, die Auswirkungen der Technologie zu berücksichtigen, wächst. Allzu häufig werden Mythen zur Überbrückung dieser Kluft benutzt. Aber wie wir in Laufe der Auseinandersetzung mit den 50 Mythen auf den folgenden Seiten zeigen werden, handelt es sich dabei lediglich um Konstrukte, um Individualinteressen zu verbreiten.

Ein anderer deutscher Philosoph der Anfänge der Technologie, Hans Jonas, argumentierte dahingehend, dass wir, damit die Menschheit von Technologien profitieren kann, einen neuen „Kompaß“ brauchen, einen regulatorischen Polarstern, an dem sich Normen und Politiken orientieren können. Anfang des 21. Jahrhunderts war ein solcher Polarstern, ein solcher Fixpunkt, entstanden; er bestimmte die ersten 15 Jahre der Internet Governance. In der Genfer Prinzipienerklärung von 2003 und der Verpflichtungserklärung von Tunis von 2005 bekräftigte die internationale Gemeinschaft ihr Bekenntnis dazu, „basierend auf den Zielen und Grundsätzen der Charter der Vereinten Nationen, dem Völkerrecht und Multilateralismus eine auf den Menschen fokussierte, inklusive und entwicklungsorientierte Informationsgesellschaft aufzubauen, und dabei die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umfänglich einzuhalten und zu respektieren, so dass die Menschen überall Informationen und Wissen schaffen, nutzen, austauschen und Zugang dazu haben können, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen und die international vereinbarten Entwicklungsziele einschließlich der Milleniumsziele zu erreichen.“

Bei diesem IGF in Berlin – wie schon bei den vorangegangenen Veranstaltungen – beraten Internet Governance-Akteure darüber, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Mythen, die diesem Bekenntnis im Wege stehen, müssen entlarvt werden. Dies geschieht mit den ersten 50 Mythen auf den folgenden Seiten.

Hamburg/Berlin • September 2019