Mythos #14: Nur Kriminelle wollen Anonymität im Internet.
Thorsten Thiel

Mythos: Digitale Kommunikation fördert die anonyme Kommunikation, und Anonymität lässt Menschen unverantwortlich und verantwortungslos handeln, untergräbt das gesellschaftliche Vertrauen und wirkt sich schädlich auf den öffentlichen Diskurs aus. Anonymität bietet die Möglichkeit, Mitmenschen auf unfaire Weise auszunutzen, Hass zu verbreiten oder Straftaten zu begehen und sollte daher nicht geduldet werden.

 

Stimmt’s? Es wird oft angenommen, dass der Siegeszug der vernetzten Kommunikation die Welt anonymer gemacht hat (# 5). Dies stimmt nicht oder muss zumindest deutlich relativiert werden. Während computerbasierte Kommunikation immer in gewissem Maß pseudonymisiert ist, sodass Nutzer*innen ihre eigene Identität gegenüber anderen Internetnutzern oftmals verbergen können, haben sich die Möglichkeiten gut ausgestatteter Akteure wie beispielsweise Staaten und Unternehmen, Nutzer*innen zu identifizieren und zu verfolgen, deutlich verbessert. Digitale Kommunikation lässt sich speichern, nachverfolgen und analysieren, und die Möglichkeiten zur nachträglichen Identifizierung von Personen haben auf Kosten der Menschenrechte erheblich zugenommen. Die Wahrung von Anonymität in einer datenreichen Umgebung ist schwierig und muss aktiv angestrebt werden. Der Ausgangspunkt des Arguments ist daher falsch.

Darüber hinaus profitieren nicht nur Kriminelle von Anonymität, auch wenn diese Anonymisierungstechniken ebenfalls nutzen. Anonymität ist für die unterschiedlichsten Personengruppen oder gesellschaftliche Kreise unerlässlich. Ein gutes Beispiel sind Minderheiten oder politische Aktivisten, da sie oft einen sicheren Raum brauchen, um ihre Identität zu finden und zu formen und zu klären, wie sie sich gegenüber der Gesellschaft positionieren können (# 18). Daneben gibt es etliche Berufsgruppen wie beispielsweise Journalist*innen, Therapeut*innen und andere, die auf Räume angewiesen sind, in denen Anonymität vorausgesetzt und aktiv geschützt werden kann. Und schließlich nutzt auch dem Einzelnen selbst eine gesellschaftliche Struktur, in der anonyme Kommunikation der Standard ist. Anonymität ermöglicht es den Bürger*innen, verschiedene Identitäten auszuprobieren und so mehr über die Ansichten anderer zu erfahren, ihre Meinung im Lauf der Zeit zu ändern und sich frei und offen zu äußern. Sich der Beobachtung entziehen zu können, ist ein wichtiges Gut einer liberalen Gesellschaft, sowohl aus Gründen des Datenschutzes als auch der Demokratie (# 17).

Darüber hinaus löst Anonymität, für sich allein genommen, kein verwerfliches oder unverantwortliches Verhalten aus. Empirische Studien zeigen, dass es nicht nachgewiesen ist, dass sich Menschen bei anonymer Kommunikation schlechter verhalten als Menschen, denen bewusst ist, dass sie identifizierbar sind. Vieles hängt vom Kontext, kulturellen Faktoren und den Präferenzen der Handelnden ab. Darüber hinaus kann Anonymität auch zu offenerem und kreativerem Verhalten führen, Vorurteilen entgegenwirken oder einen gleichberechtigten Diskurs anstelle eines flachen und konformistischen Reputationsmanagements fördern.

 

Stimmt also nicht! Anonymität ist ein zunehmend rares Gut in der vernetzten Gesellschaft, sollte jedoch aktiv geschützt werden, da sie vielen Menschen und Gruppen in der Gesellschaft erlaubt, ihre Stimme zu erheben. Anonymität per se erzeugt kein verwerfliches Verhalten. Liberale Gesellschaften sollten gesellschaftliche Kontexte diskutieren und definieren, in denen anonyme Kommunikation akzeptiert und geschützt wird.

 


Quelle: Hans Asenbaum, Anonymity and Democracy: Absence as Presence in the Public Sphere, American Political Science Review 112 (2018): 1‑14; Gary T. Marx, What’s in a Name? Some Reflections on the Sociology of Anonymity, The Information Society 15 (1999), 99‑112.