Mythos #20: Soziale Medien sind ein exakter Spiegel der Gesellschaft.
Jozef Michal Mintal

Mythos: Soziale Medien spiegeln gesellschaftliche Trends und die öffentliche Meinung passend wider. Da heutzutage jeder in den sozialen Medien unterwegs ist, kann man die allgemeine Einstellung einer Bevölkerung ermitteln, indem man sich ansieht, was die Menschen online veröffentlichen und teilen.

 

Stimmt’s? Dieser Mythos basiert auf mindestens zwei grundlegend falschen Annahmen. Die erste ist die Vorstellung, dass heutzutage alle in den sozialen Medien unterwegs sind. Auch wenn die Nutzung des Internets und von sozialen Medien in den letzten zehn Jahren stark zugenommen hat, bestehen global gesehen nach wie vor erhebliche Unterschiede in der Internet‑ und Social-Media-Verbreitung, wobei die Internetverbreitung in einigen Ländern bei gerade einmal zehn Prozent liegt. Aber auch in Ländern mit hoher Internetnutzung sind die Nutzer*innen sozialer Medien nicht repräsentativ. Zu berücksichtigen sind Geschlecht, Einkommen, Alter und andere Unterschiede (Blank/Lutz 2017). Auch Minderheiten – einschließlich Sprachminderheiten – sind in der Regel in sozialen Medien unterrepräsentiert.

Daneben existieren jedoch noch weitere Faktoren, aufgrund derer es schlicht unmöglich ist, die Gesamteinstellung einer Bevölkerung nur aus Posts und Likes abzuleiten (# 24). Zum einen neigen wir bei der Nutzung sozialer Medien dazu, uns zu denen hingezogen zu fühlen, die wir als uns am ähnlichsten empfinden (# 21, # 22). Das bedeutet, dass wir im Durchschnitt hauptsächlich mit Überzeugungen und Einstellungen konfrontiert sind, die unseren eigenen gleichen, was wiederum keine geeignete Grundlage dafür ist, das Denken und die Vorlieben der meisten Menschen einzuschätzen.

Darüber hinaus scheint die Nutzer*innenaktivität etlicher Social-Media-Plattformen in etwa Potenzgesetzen zu folgen (# 41). Das bedeutet, dass eine kleine Anzahl von Nutzer*innen einen großen Teil der gesamten Inhalte generiert. So besagt beispielsweise eine kürzlich veröffentlichte Twitter-Studie, dass zehn Prozent der Nutzer*innen in den USA für 80 % der Social-Media-Inhalte verantwortlich sind (Wojcik/Hughes 2019). Die Meinungen einiger weniger äußerst aktiver Nutzer*innen scheinen daher weitaus sichtbarer zu sein, als es der Realität entspräche.

Daneben kommen noch viele weitere Aspekte zum Tragen, darunter unter anderem das Paradox der Mehrheitsillusion, algorithmische Verzerrung und die Einrichtung gefälschter Social-Media-Profile. Wir sollten daher sehr kritisch gegenüber dem sein, was wir online sehen, und uns immer vor Augen führen, dass soziale Medien kein präziser Spiegel der Gesellschaft sind.

 

Stimmt also nicht! Soziale Medien zeichnen ein stark verzerrtes Bild der Gesellschaft als Ganzes. Auch wenn die Nutzung sozialer Medien zunimmt, sind Social-Media-Plattformen noch lange nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Zusammen mit Faktoren wie hochaktiven Mediennutzer*innen, algorithmischer Verzerrung und der Tendenz, sich Gleichgesinnten anzuschließen und Beiträge zu lesen, denen man zustimmt, lässt sich die allgemeine Einstellung einer Bevölkerung nicht präzise dadurch ermitteln, dass man sich anschaut, was online veröffentlicht und geteilt wird.

 


Quelle: Grant Blank und Christoph Lutz, Representativeness of Social Media in Great Britain: Investigating Facebook, LinkedIn, Twitter, Pinterest, Google+, and Instagram, American Behavioral Scientist 61 (2017) 7, 741‑756; Stefan Wojcik und Adam Hughes, Sizing Up Twitter Users, Pew Research Center (2019), https://www.pewInternet.org/2019/04/24/sizing-up-twitter-users.