Mythos #39: Netzneutralität ist im gesamten Internet sichergestellt.
Bernadette Califano und Mariano Zukerfeld

Mythos: Die Regeln für Netzneutralität verbieten diskriminierende Praktiken im Internet und gewährleisten so eine Gleichbehandlung aller Informationspakete unabhängig von Nutzer*innen, Inhalt, Plattform, Ort oder Anwendung. Durch die Förderung von Meinungsfreiheit, Wettbewerb und Informationsaustausch im Internet verhindern die Netzneutralitätsgesetze eine ungerechte Behandlung der Internetnutzer*innen.

 

Stimmt’s? Eine Gleichbehandlung von Paketen unabhängig von Nutzer*innen, Inhalt, Plattform etc. ist in der Praxis selbst in solchen Ländern nur selten zu finden, in denen Netzneutralitätsgesetze durchgesetzt werden, wobei die Lage auf der Südhalbkugel besonders kritisch ist. Dies soll anhand von fünf Praxisbeispielen verdeutlicht werden: Die von Internetdienstanbietern durchgeführten Maßnahmen zur Kontrolle von Traffic beinhalten auch eine Priorisierung bestimmter Datenpakete gegenüber anderen. Die mangelnde Transparenz dieser Maßnahmen spricht für die Annahme, dass sie von wirtschaftlichen Zielen bestimmt und nicht ausschließlich technisch begründet sind.

Einige leistungsstarke Content‑ oder Dienstanbieter nutzen Content Distribution Networks (CDNs) oder schließen Peering-Vereinbarungen ab, um die Durchleitung ihrer Inhalte zu verbessern. So erhalten Akteure, die bereit sind, dafür zu bezahlen, zusätzliche Leistung, um die Verbreitung ihrer Inhalte gegenüber anderen – kleineren – Content- und Dienstanbietern zu beschleunigen.

Netzneutralität als auf den Signaltransport angewandtes Prinzip verhindert keine Diskriminierung auf höheren Ebenen des OSI-Modells, beispielsweise durch das Ranking von Suchmaschinen. Dementsprechend werden einige Informationspakete und die Nutzer*innen, die diese senden und empfangen können, benachteiligt. Mangelnde Transparenz der Algorithmen und die Abwesenheit von „Suchneutralität“ verhindern durch Content Filtering und Ranking auf Plattformen eine faire Behandlung aller Internetnutzer*innen.

Bandbreitenunterschiede zwischen Ländern führen zu einer Diskriminierung von Paketen aus peripheren Ländern. Die weltweite durchschnittliche Download-Geschwindigkeit belief sich im Jahr 2018 auf 45 Mbit/s. In Schweden waren es 94 MBit/s und in den Vereinigten Staaten von Amerika 92 MBit/s, während der Durchschnitt in Lateinamerika 19 MBit/s und in Afrika 14 MBit/s betrug.

Unterschiedliche Upload‑ und Download-Geschwindigkeit erfordern eine Traffic-Priorisierung einiger Datenpakete gegenüber anderen. Insgesamt ist die Upload-Geschwindigkeit in den meisten Ländern der Welt deutlich geringer als die Download-Geschwindigkeit (45 bzw. 22 Mbit/s). Die Konsequenz ist, dass es Inhalteproduzent*innen fast überall auf der Welt schwerer haben als Rezipient*innen (à # 40). Noch ungünstiger sieht es aus, wenn man das zuvor Gesagte bedenkt: Pakete von Anbieter*innen aus peripheren Ländern werden trotz der Durchsetzung von Regeln zur Netzneutralität benachteiligt.

Es existieren ganz offensichtlich ungeachtet aller Gesetze zur Netzneutralität makroökonomische Gründe, Nutzer*innen mit geringerer Kaufkraft zu benachteiligen, was von den Befürwortern des Netzneutralitätskonzept nur selten ausgesprochen wird.

 

Stimmt also nicht! Gesetze zur Netzneutralität können durchaus transportbezogene Diskriminierung verhindern, jedoch nützt dies eher Großanbieter*innen von Inhalten und Diensten, statt gleiche Ausgangsbedingungen für Nutzer*innen und Anbieter*innen aus „peripheren“ Ländern zu fördern, da ihre Informationspakete unterschiedlichen Formen von Diskriminierung im Internet ausgesetzt sind. Konzepte der Netzneutralität allein reichen daher nicht aus, um die Gleichbehandlung von Nutzer*innen und Inhalten aus Ländern mit schwächerem Internetzugang zu gewährleisten.

 


Quelle: Mariano Zukerfeld und Bernadette Califano, Discutiendo la neutralidad de la red. De los discursos dominantes a las prácticas en contextos periféricos, 8 Commons (2019) 1, 5‑43; Martin Cave und Pietro Crocioni, Does Europe Need Network Neutrality Rules?, 1 International Journal of Communication (2007), 669‑679.