Mythos #21: Alle Internetnutzer*innen erleben dasselbe Internet.
David Schulze

Mythos: Das Internet ist für alle gleich. Zwar können Staaten ausländische Inhalte in ihrem Land sperren, und Inhalte können aus Gründen des Urheberrechtsschutzes entfernt werden, jedoch sind wir insgesamt alle gleichwertige Bürger*innen des Internets und werden als solche behandelt, wenn wir uns in einem Land mit unzensiertem Internet aufhalten oder auf allgemein zugänglichen Websites surfen.

 

Stimmt’s? Die meisten Nutzer*innen akzeptieren, dass die Inhalte, die sie auf YouTube ansehen, in Google suchen (# 19) oder sich von Amazon vorschlagen lassen, personalisiert sind (# 22). Weniger akzeptiert und häufig Anlass zu Verärgerung ist jedoch gezielte Onlinewerbung, wie sie meist auf Websites mit Google Ads und Facebook erscheint. Regierungen und Unternehmen haben jedoch Mittel wie beispielsweise die Umleitung von Traffic, Filter und Algorithmen entwickelt, die einen weitgehenden, aber schwer erkennbaren Einfluss auf die Art und Weise haben können, wie wir das Internet erleben.

Denken wir beispielsweise an das als „Große Firewall“ bezeichnete Programm der chinesischen Regierung zur Kontrolle des Internets. Während diese Firewall bestimmte ausländische Websites wie die des Economist und von Le Monde einfach sperrt, haben Studien beispielsweise vom Citizen Lab an der University of Toronto eine komplexe Struktur festgestellt, die auch Zugriffsanfragen auf Websites in China und im Ausland verlangsamen und umleiten kann und sie für offensive Zwecke in DDoS-Angriffen nutzt. Zensur führt in der Regel zu Frustration und Protest, kann aber auch unbewusste Verhaltensänderungen auslösen. Kritische Meinungen werden ganz offensichtlich durch rigide Zensur erstickt. Aber wenn bestimmte Seiten einfach nur sehr langsam geladen werden können, könnten wir ihren Aufruf künftig vermeiden, ohne dafür die Zensur verantwortlich zu machen. Wenn unsere Anfrage stattdessen umgeleitet oder Bestandteil eines DDoS-Angriffs wird, besteht die Möglichkeit, dass wir dies nie erfahren.

Ein weiteres Beispiel: Unternehmen nutzen Hard‑ und Software, um die Nutzer*innenerfahrung aus wirtschaftlichen oder sogar politischen Gründen zu beeinflussen. Algorithmen, die bekannte Storys in unseren Social-Media‑ oder Suchergebnissen verstärken können, sind auch Teil anderer Websites wie beispielsweise Google Scholar. Internetdienstanbietern wie beispielsweise Comcast (USA) und Bell Canada wird vorgeworfen, bestimmten Internet-Traffic mithilfe von Deep Packet Inspection rechtswidrig zu drosseln, um zwischen Datenströmen zu ihren eigenen Diensten und denen ihrer Wettbewerber zu unterscheiden und die Bandbreite entsprechend zu verändern (# 39). Hersteller von Smartphones steuern, wie Kund*innen Apps und über diese das Internet nutzen, indem sie den Zugriff auf bestimmte Apps behindern oder sogar mit ihren Betriebssystemen inkompatibel machen. Auch machen sich Unternehmen der Zensur mitschuldig, wenn sie für rechtswidrig gehaltene nutzer*innengenerierte Inhalte oder den Zugang zu Protesten ihrer eigenen Mitarbeiter*innen über deren Arbeitsbedingungen sperren.

Wir leben schon jetzt in einem fragmentierten Internet, dessen Brüche direkt durch Länder, Geräte und Websites der Nutzer*innen hindurchgehen und nicht nur zwischen ihnen bestehen. Der erste Schritt zur Defragmentierung ist Aufklärung.

 

Stimmt also nicht! Internetdienstanbieter, Regierungen sowie Cloud‑, Hard‑ und Softwareunternehmen haben Mauern, „Walled Gardens“, Trennwände und Blasen geschaffen, die unsere Onlineerfahrung, die Art und Weise, wie wir mit anderen Nutzer*innen interagieren und wie wir uns über die Welt informieren, nachhaltig prägen können. Diese Barrieren sind teils flexibel, entwickeln sich weiter und sind oftmals verborgen. Sie lassen uns verschiedene Teile des Internets erleben und dieselben Teile anders. Nur das Wissen um die Barrieren kann uns helfen, die Fragmentierung unseres Lebens in der digitalen Welt zu überwinden.

 


Quelle: Roya Ensafi, Philipp Winter, Abdullah Mueen, Jedidiah R. Crandall, Analyzing the Great Firewall of China Over Space and Time, Proceedings on Privacy Enhancing Technologies, 1 (2015), 61‑76, doi: https://doi.org/10.1515/popets-2015-0005; Greg Goth, ISP Traffic Management: Will Innovation or Regulation Ensure Fairness?, IEEE Distributed Systems Online, 9 (2008) 9, https://ieeexplore.ieee.org/abstract/document/4659261.