Mythos #27: Millennials sind sämtlich internetaffine „Digital Natives“.
Claudia Lampert

Mythos: Kinder wachsen in einem durch Medien geprägten Umfeld auf, kennen das Internet von Grund auf, eignen sich digitale Medien problemlos an und erwerben auf diese Weise automatisch Medienkompetenz. Demgegenüber werden Erwachsene oft als „digitale Immigranten“ betrachtet, die keine Chance haben, das Internet und die Onlinemedien so virtuos zu nutzen wie die heutigen und künftigen jungen Generationen.

 

Stimmt’s? Kinder kommen immer früher mit digitalen Medien in Berührung. Selbst Babys und Kleinkinder sehen ihre Eltern oder Betreuer*innen mit dem Smartphone oder Tablet hantieren. Geräte mit Touchscreen oder Sprachsteuerung (beispielsweise digitale Assistenten wie Siri oder intelligente Lautsprecher wie Alexa) erfordern keine Schreib‑ oder Tastaturkenntnisse, sodass auch Kleinkinder problemlos digitale Anwendungen nutzen können. Aktuelle Daten zeigen, dass die Verbreitung digitaler mobiler Geräte in den letzten Jahren zugenommen hat und dass das Alter, in dem Kinder ihr erstes eigenes Smartphone erhalten, abnimmt. Für die meisten Teenager in den westlichen Ländern ist der Besitz eines Smartphones heutzutage selbstverständlich. Die digitalen Möglichkeiten werden jedoch sehr unterschiedlich genutzt, nämlich in erster Linie für Kommunikation und Unterhaltung und weniger für Information und Teilhabe. Aber es ist die natürliche und (bisweilen äußerst) intensive Nutzung der verschiedenen digitalen Möglichkeiten, die den Eindruck erweckt, dass Kinder digitale Technologien beherrschen und kompetenter damit umgehen als Erwachsene.

Hierbei verkennen wir jedoch oft, dass der selbstbestimmte, souveräne Umgang mit Medien mehr erfordert als technische Kompetenz. Einerseits ist ein gewisses Verständnis von Medien, medienrelevanten Strukturen und Funktionalitäten erforderlich, um verschiedene Medienangebote zu bewerten und einzuordnen (Was unterscheidet beispielsweise öffentlich-rechtliche von privaten Programmen? Was sind Algorithmen, und wie wirken sie sich auf Onlineinhalte und -nutzung aus? Wie funktioniert beispielsweise Onlinewerbung? Was sind Influencer*innen?). Andererseits bedeutet Selbstbestimmung auch, dass die Medien als Ausdrucksmittel genutzt werden, um eigene Ansichten zu artikulieren, ohne die Würde und Rechte anderer zu verletzen. Schließlich geht es auch darum, über die Möglichkeiten und Risiken der Digitalisierung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nachzudenken und das kreative und partizipative Potenzial verschiedener Medien zu nutzen.

Neuere Studien zeigen, dass Jugendliche je nach Alter, sozialem Kontext und Bildungsstand digitale Angebote ganz unterschiedlich nutzen und dass die Kompetenzen sehr unterschiedlich entwickelt sind. Es sieht immer noch so aus, dass Menschen mit privilegiertem sozioökonomischem Status und höherer Bildung digitale Möglichkeiten auf vielfältigere Weise nutzen und daher größeren Nutzen daraus erzielen. Die Unterschiede zeigen auch, dass sich die (digitalen) Ungleichheiten vom Zugang („digitale Spaltung“) zur Nutzung („zweite digitale Spaltung“) verschoben haben. Für Bildungseinrichtungen bedeutet dies, dass nicht nur die technische Infrastruktur, sondern vor allem auch die Nutzung und Reflexion digitaler Onlineprogramme berücksichtigt und optimiert werden muss.

 

Stimmt also nicht! Die Tatsache, dass Kinder in einem medienbestimmten Umfeld aufwachsen, bedeutet nicht, dass auch alle Kinder die digitalen Medien in (gleichermaßen) kompetenter Weise nutzen. Einerseits sind die individuellen Anforderungen sehr unterschiedlich, und andererseits erfordert eine selbstbestimmte und souveräne Nutzung mehr als technische Fähigkeiten.

 


Quelle: Eszter Hargittai und Yuli Patrick Hsieh, Digital Inequality, in William H. Dutton (Hrsg.), The Oxford Handbook of Internet Studies (Oxford: OUP, 2013), DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199589074.013.0007; Marc Prensky, Digital Natives, Digital Immigrants, On the Horizon (2001), www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf.