Nachsatz

Wolfgang Kleinwächter

Wolfgang Kleinwächter
Wolfgang Kleinwächter ist emeritierter Professor der Universität Aarhus, Mitglied der Global Commission on Stability in Cyberspace, ehemaliges Mitglied des ICANN Board (2013 2015) sowie ehemaliger Sonderbotschafter für die Net Mundial Initiative (2014 2016).

 

Das IGF: Ein „Talking Shop“, den wir für eine nachhaltige Internet Governance im Zeitalter der Cyberinterdependenz brauchen

Das Mandat für das Internet Governance Forum (IGF) basiert auf der Tunis-Agenda aus dem Jahr 2005. Auf dem Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS, World Summit on the Information Society) erkannten die Regierungen, dass das Internet ein großes internationales Thema ist, obwohl sie sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einigen konnten, wie sie es „regeln“ sollten. China wollte ein neues zwischenstaatliches Organ, während die USA eine führende Rolle des Privatsektors favorisierten. Die 2003 von UN-Generalsekretär Kofi Annan mit dem Ziel, eine Lösung für diese Kontroverse zu finden, ins Leben gerufene Working Group on Internet Governance (WGIG) schlug einen Multi-Stakeholder-orientierten Ansatz vor. Alle Stakeholder sollten sich in ihren jeweiligen Rollen an der Entwicklung und Entscheidungsfindung in Bezug auf das Internet beteiligen. Es konnte jedoch kein Konsens gefunden werden.

In Tunis bestand das hohe Risiko eines Scheiterns des gesamten Gipfels, was jedoch niemand wollte. Es war daher nicht verwunderlich, dass die Regierungen nach einem Minimalkonsens suchten, um den Gipfel zu einem „Erfolg“ zu machen. Dieser Konsens war die Gründung des IGF.

Für die Schaffung einer solchen Diskussionsplattform lieferte die WGIG die folgende einfache Begründung: Internetfragen sind sehr komplex und besitzen technische, politische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen. Bevor Entscheidungen getroffen werden, bedarf es einer breiten Diskussion, um diese Komplexität zu verstehen und die Perspektiven und Argumente aller beteiligten und betroffenen Gruppen zu erkennen, d. h. der nationalen Regierungen, des Privatsektors (auf den 90 Prozent der Internetanwendungen und -dienste entfallen), der technischen Community (die Internetstandards und -protokolle entwickelt) sowie der Zivilgesellschaft mit ihren Milliarden von Internetnutzern.

Da sich die Regierungen nicht darauf einigen konnten, einer neuen Institution Entscheidungskompetenzen für das Internet zu übertragen, schränkten sie die Zuständigkeiten des IGF „lediglich auf die Diskussionsebene“ ein. Die Befürchtung war, dass ein IGF mit Entscheidungsmandat die Plattform in ein neues zwischenstaatliches Schlachtfeld verwandeln und jede neutrale Diskussion auf der Grundlage von Fakten und Zahlen blockieren würde. Man hoffte, dass eine reine Diskussionsplattform einen offenen Meinungs und Diskussionsaustausch sowie einen freien Dialog zwischen allen Beteiligten fördern würde. Das in den Diskussionen im IGF gewonnene Wissen und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse sollten es den Entscheidungsträgern ermöglichen, Lösungen für internetbezogene Probleme zu finden, ohne dass jedoch im IGF Entscheidungen getroffen werden sollten. Hierfür sollten Organisationen mit Verhandlungs und Entscheidungsmandat außerhalb des IGF zuständig sein.

Dieser Ansatz war pragmatisch. In der Tat hat sich das IGF in den Jahren seit seiner Gründung im Jahr 2005 zu einem großen jährlichen Marktplatz für Informationen und Ideen rund um technische und politische Fragen zu allen Bereichen des Internets entwickelt. Unabhängig von den jedes Jahr stattfindenden Hunderten von Internetkonferenzen gibt es keinen anderen Ort, an dem hochrangige Stakeholder aus der ganzen Welt auf Augenhöhe dermaßen intensive länderübergreifende und interdisziplinäre Gespräche führen können. Das IGF ist eine Quelle der Inspiration auf dem Weg in das noch unkartierte Gebiet des Cyberspace.

Dieser Mechanismus hat jedoch auch seine Schwächen. Es existiert kein Verfahren, um die Ergebnisse der IGF-Plenarsitzungen und Workshops in praktische Prozesse einfließen zu lassen. Noch gibt es keine Anlaufstelle für das im IGF angesammelte Wissen und die Multi-Stakeholder-Ergebnisse.

Vor 20 Jahren war Internet Governance primär ein technisches Thema mit gewissen politischen Implikationen. Heute ist sie ein politisches Thema mit einer technischen Komponente. Die Welt hat sich verändert. Bedeutet das auch, dass sich das IGF ändern muss?

Die Antwort lautet: „Sowohl ja als auch nein“. „Nein“, denn es besteht nach wie vor die Notwendigkeit, die Komplexität von Themen zu verstehen, bevor Entscheidungen getroffen werden, und die heutigen internetbezogenen Themen – von der KI bis zum Internet der Dinge und 5G – sind weitaus komplexer als die in den frühen 2000er Jahren diskutierten Themen. Aber auch „ja“, denn es gilt, die Lücke zwischen Diskussion und Entscheidungsfindung zu schließen.

Im Jahr 2000 war die Regulierung des Internets für die Mehrheit der zwischenstaatlichen Organisationen kein Thema. Heute ist sie das. Das Internet steht heute auf der Agenda von mehr als zwei Dutzend globaler oder regionaler zwischenstaatlicher Gremien. Selbst die WHO und die ILO diskutieren über die Folgen der Digitalisierung für die Zukunft der Arbeit oder die Verbesserung der Gesundheitssysteme. Cybersicherheit ist ein großes Thema für die Verhandlungen im Rahmen des 1. und 3. Ausschusses der UN-Generalversammlung. Der digitale Handel steht auf der Agenda der WTO. Der UN-Menschenrechtsrat hat Resolutionen zum Thema Datenschutz und Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter verabschiedet.

All diese Fragen werden im IGF diskutiert. In viele der internetbezogenen zwischenstaatlichen Verhandlungen ist das IGF jedoch nicht eingebunden. Die Verhandlungsführer sitzen in ihren Silos, ignorieren die Diskussionen im Multi-Stakeholder-Umfeld des IGF und erfinden das Rad immer wieder neu. Das ist nicht nur bedauerlich und eine Verschwendung von Ressourcen, sondern auch kontraproduktiv, wenn in einer vernetzten Welt die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut.

Wie das High-Level-Panel der Vereinten Nationen erst kürzlich hervorgehoben hat, leben wir in einer Welt der Cyberinterdependenz. Interdependenz verlangt nach Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Und sie bedeutet, dass Cybersicherheit, digitale Wirtschaft, Menschenrechte und technologische Innovationen miteinander verknüpft sind. Mithilfe eines ganzheitlichen Ansatzes können in Verhandlungen nachhaltige Lösungen für ein sicheres, freies, offenes und unfragmentiertes Internet gefunden werden. Weltweit ist das IGF der einzige Ort für einen solchen Multi-Stakeholder und multidisziplinären Dialog.

Die einfache Wahrheit ist: Wir brauchen einen „Talking Shop“ als Diskussionsplattform, aber wir brauchen auch Mechanismen, die das Wissen, das Know-how und die Erfahrung des IGF in bestehende zwischenstaatliche Verhandlungen einfließen lassen. Das fehlende Bindeglied zwischen Diskussion und Entscheidung ist ein Verteilungsmechanismus, der die Botschaften des IGF unter anderem an die OEWG, UNGGE, GGE Laws, WTO, WIPO, ITU, UNESCO, ILO, WHO, UNCTAD, OSZE, G7, G20, BRICS, SCO, NATO, OSCE und die ASEAN weiterleitet und zu Feedback auffordert, um eine verbesserte Multi-Stakeholder-Kommunikation, Koordination und Zusammenarbeit im Bereich der Internet Governance zu ermöglichen und zu verbessern.