Mythos #29: Das Internet verfälscht Wahlen.
Franziska Oehmer und Stefano Pedrazzi

Mythos: Das Internet ist zu einer immer wichtigeren Informationsquelle für Wähler*innen geworden, die sich so ihre Meinung bilden und bei Wahlen mit Parteien und Kandidaten interagieren. Es besteht jedoch der Verdacht, dass Bots und Trolle den Kommunikationsprozess bei Wahlen massiv manipulieren und die tatsächliche Beliebtheit bestimmter Politiker*innen verzerren. Dies gefährdet die Grundlage für informierte Entscheidungen. Das Internet zerstört somit demokratische Wahlen und usurpiert Referenden.

 

Stimmt’s? Seit dem US-Wahlkampf und der Brexit-Abstimmung im Jahr 2016 gibt es Spekulationen über den entscheidenden Einfluss von Bots und Trollen auf den Onlinediskurs (# 30). Es besteht der Verdacht, dass diese (halb)automatisierten Accounts, die mit vorgetäuschter menschlicher Identität Inhalte oder Profile in sozialen Netzwerken produzieren, verbreiten und liken, die öffentliche Meinung verzerrt und schwerwiegende Folgen ausgelöst haben: Trump wurde Präsident, und Großbritannien beschloss, die EU zu verlassen.

Der Mythos geht zum Ersten davon aus, dass Bots und Trolle den politischen Diskurs quantitativ bestimmen (oder zumindest entscheidend beeinflussen), indem sie die Bandbreite falscher Nachrichten steigern, die Beliebtheit und Relevanz politischer Kandidaten, Themen und Positionen erhöhen und Einzelpersonen und Organisationen des politischen Systems oder der Zivilgesellschaft in der Masse der Kommunikationsaktivitäten oder aufgrund algorithmischer Filterung verschwinden lassen. Zum Zweiten bedeutet dies, dass sich die Bürger*innen bei ihrer Wahlentscheidung hauptsächlich und unkritisch auf Informationen aus dem Internet verlassen.

Inwieweit Bots und Trolle tatsächlich den Diskurs vor Wahlen und Abstimmungen bestimmen, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit feststellen. Je nach Abstimmung, Wahl und nationalem Kontext hat die Forschung unterschiedliche Daten und Antworten gefunden, die von vergleichsweise großen, aber nicht dominanten, bis hin zu vernachlässigbar kleinen Anteilen von am Onlinediskurs teilnehmenden Bot‑ und Troll-Accounts reichen. Ein Grund für schwankende Werte ist auch die Tatsache, dass die Identifizierung solcher Accounts (derzeit) schwierig und unzuverlässig ist. Aber selbst im hypothetischen Fall einer stärkeren Präsenz von Bots und Trollen in der politischen Onlinediskussion ist es unwahrscheinlich, dass sie die Entscheidung an der Wahlurne bestimmen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung informiert sich vor Wahlen oder Abstimmungen ausschließlich über das Internet (# 23). Darüber hinaus lässt sich eine Wahlentscheidung definitiv nicht verlässlich allein auf der Grundlage vorhersagen, dass Informationen aus den Medien oder von unbekannten Akteuren im Internet bezogen wurden: Vielmehr bestimmen der persönliche Austausch mit unserem sozialen Umfeld oder mit anerkannten Meinungsbildnern sowie unsere bestehenden politischen Präferenzen, wo wir das Kreuz setzen.

 

Stimmt also nicht! Das Internet verfälscht keine demokratischen Wahlen und Abstimmungen. Soziale Bots und Trolle haben derzeit keinen beherrschenden Einfluss auf Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Maßgeblich sind nach wie vor persönliche Präferenzen für eine politische Partei und der Austausch mit dem sozialen Umfeld. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Einfluss von Bots und Trollen in Zukunft zunehmen wird.

 


Quelle: Emilio Ferrara, Onur Varol, Clayton Davis, Filippo Menczer, Alessandro Flammini, The Rise of Social Bots, 59 Communications of the ACM (2016) 7, 96‑104, https://dl.acm.org/citation.cfm?id=2818717; Samuel C. Woolley, Philip N. Howard (Hrsg.), Computational Propaganda (Oxford: OUP, 2018).